In der Ärtzezeitung vom April 2015 stand folgender Artikel:
Verlust eines Kindes
"Der Schmerz ist bei allen Eltern derselbe"
Ob Autounfall, Gewalttat oder Suizid: Wenn ein Kind stirbt, hinterlässt das in der Familie eine riesige Lücke. Wie gehen Eltern mit diesem Schmerz um? Dafür gibt es kein Patentrezept. Aber Hilfe ist möglich.
Von Jana Kötter
Wenn ein Kind stirbt, gehen Eltern ganz individuell mit dem Schmerz um. Ein Patentrezept gibt es nicht.
© Michaela Illian
NEU-ISENBURG. Als Max am Essenstisch plötzlich nichts mehr sagte, wussten seine Eltern sofort, dass etwas nicht stimmt. "Mehrmals haben wir ihn angesprochen", erinnert sich seine Mutter heute.
Der damals Zehnjährige hat nicht reagiert, wirkte wie abwesend - Minuten lang.
Zehn Jahre ist dieser Nachmittag bereits her, für Anke und Rüdiger Schönbohm war seither nichts mehr, wie es war. Denn seit diesem ersten Mal wurden Max‘ Aussetzer immer länger, immer öfter.
Im Mai 2005 wird die Diagnose subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) gestellt - eine Spätfolge einer Masernerkrankung im Juli 1994. "Max war noch zu jung, um geimpft zu werden."
Als Max im April 2006 ins Koma fällt, beschließen seine Eltern kurz darauf, einen Verein zu gründen.
Um auf Max‘ Schicksal aufmerksam zu machen, um andere Betroffene zu finden, um anderen Menschen Mut zu machen - und um über die Wichtigkeit des Herdenschutzes bei der Masernimpfung aufzuklären. "Das soll anderen Menschen nicht passieren."
Leben neu ordnen
Den Verein am Laufen zu halten, neben der Pflege von Max, hat Kraft gekostet. "Doch es hat auch Kraft gegeben, zu spüren, dass man anderen Menschen helfen kann", sagt Anke Schönbohm. Der Verein hat der Familie geholfen, ihr Leben neu zu ordnen.
"Wenn ein Kind stirbt, dann ist das Bild eines defekten Mobiles sehr zutreffend", erklärt die Diplom-Psychologin, Trauma-Therapeutin und Trauerbegleiterin Annette Meier-Braun. Ihr zweites Kind, Tochter Nora, starb im Alter von 19 Monaten.
"Schneidet man ein Teil vom Mobil ab, so funktioniert es nicht mehr. Es hängt schief - und es dauert sehr lange, bis es wieder ein Gleichgewicht gefunden hat."
Heute sind Anke und Rüdiger Schönbohm da, wenn andere Eltern Hilfe suchen. "Wir reden, geben Infos weiter. Uns ist dabei auch wichtig, dass andere Eltern über die Gefahren von SSPE Bescheid wissen", sagt die 50-Jährige.
"In erster Linie jedoch geht es um den Austausch von Erfahrungen." Die Eheleute hatten damals niemanden: "Wir wussten überhaupt nicht, mit wem wir reden können. Wir haben uns so allein gefühlt."
Doch genau dieser Austausch mit anderen Betroffenen kann helfen, die Trauer über den Verlust des eigenen Kindes zu überwinden, weiß Petra Hohn. "Durch den Austausch mit anderen bekommen die Betroffenen das Gefühl, nicht alleine zu sein", erklärt die Vorsitzende des Bundesverbands Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".
"Jedes Kind ist vielleicht auf einem anderen Weg gestorben, aber der Schmerz ist bei allen Eltern derselbe."
75.000 Betroffene hat der Bundesverband mit seinen Gruppen und Vereinen im vergangenen Jahr betreut. Selbsthilfegruppen, wie sie unter dem Dachverband organisiert sind, sind dabei nur ein Weg, um mit der Trauer fertig zu werden.
Andere Eltern suchen sofort Hilfe in einer professionellen Therapie, wieder andere versuchen zunächst, allein mit dem Schmerz klarzukommen.
Schutzraum für Trauernde
"Im Schutzraum der Gruppen vermitteln Eltern, die bereits durch ihren tiefen Verlustschmerz und ihre Trauer hindurch zum Leben zurückgefunden haben, die Hoffnung, dass Weiterleben möglich ist", erzählt Hohn aus der Arbeit der Selbsthilfegruppen.
Petra Hohn ist selber Betroffene, ihr Sohn hat 1998 Suizid begangen. "Es ist einfacher, man begegnet sich in der Selbsthilfegruppe auf Augenhöhe."
Psychologisches Fachwissen sei dabei jedoch unverzichtbar. In fast allen Gruppen des Bundesverbands führen qualifizierte Trauerbegleiter das Gespräch, außerdem unterstützt ein wissenschaftlicher Beirat mit Psychologen, Therapeuten, aber auch Professoren aus anderen Trauer-relevanten Bereichen das Netzwerk.
"Eine gewisse Fachkompetenz zu haben, ist sehr wichtig", sagt Hohn, die selber Psychologie studiert hat, um nach dem Verlust mehr über die Trauer und den Umgang mit ihr zu lernen.
Der Anspruch, den Selbsthilfeangebote für sich erheben, kann dabei aber sehr unterschiedlich sein.
"Es gibt Gruppen, die erzählen Eltern, sie könnten durch ein Teelicht zu ihren verstorbenen Kindern sprechen", kritisiert Trauma-Therapeutin und Trauerbegleiterin Annette Meier-Braun, die selber den Arbeitskreis trauernder Eltern und Geschwister (ATEG) in Baden/Württemberg leitet.
Für Anke Schönbohm und ihre Arbeit im Verein ist es wichtig, keine falschen Erwartungen zu wecken - insbesondere im Angesicht einer tödlichen Krankheit hofften viele Betroffene genau darauf.
"Wir wollen Hoffnung spenden, aber keine falschen Illusionen wecken", sagt Schönbohm. Aus eigener Erfahrung wissen sie und ihr Mann Rüdiger, dass sich Eltern, wenn die tödliche Diagnose gestellt wird, an jeden Hoffnungsschimmer klammern, doch noch auf die Wunderheilung setzen.
Doch im Gespräch mit anderen ist sie realistisch: "Alles andere macht kein Sinn, wenn die Heilung ausgeschlossen ist."
Die Gruppe hilft nicht allen
Trotzdem: Nicht alle Eltern gehen in eine Selbsthilfegruppe oder Therapie, viele versuchen allein mit der Trauer klarzukommen. "Nur rund ein Fünftel der Betroffenen besucht eine Trauergruppe", sagt Meier-Braun, die 15 Jahre lang Trauergruppen geleitet hat.
"Wieder andere schauen sich das Angebot zwar einmal an, merken dann aber, dass es ihnen nicht hilft."
Den einen Weg, einen Verlust zu verkraften, gibt es eben nicht. Das weiß auch Gabi Brachmann. Einmal im Monat trifft sie sich mit sechs bis zehn Menschen, um etwas gemeinsam zu unternehmen, um zu sprechen - kurzum, um Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen.
Gabi Brachmann und ihr Mann haben ihre Tochter Franziska vor zehn Jahren verloren. Mit 16 stieg sie in das Auto eines Bekannten, gemeinsam mit einem Freund. Die beiden Mitfahrer starben, der Fahrer überlebte den Unfall.
"Man denkt am Anfang ja glatt, man wird vor Schmerz verrückt." Über das Sozialamt wurde das Paar rund acht Wochen nach dem Unfall auf die Selbsthilfegruppe Verwaiste Eltern-Gotha-Eisenach aufmerksam gemacht.
"Uns hat das geholfen", erzählt Brachmann heute. "Von Betroffenen nimmt man noch einmal ganz anders an, was sie sagen. Sie verstehen den eigenen Schmerz."
Von Bekannten hingegen habe das Paar immer wieder gehört: "Ihr müsst doch auch einmal darüber hinwegkommen." Eine schmerzliche Erfahrung im vermeintlichen Freundeskreis.
Denn darüber hinweg kommt eine Familie nie. "Wirklich heilen wird das Mobile nie, das fehlende Teil wächst schließlich nicht nach", drückt es Meier-Braun aus. "Und man weiß immer, dass da mal ein Teil mehr war."
Natürlich werde es einfacher mit der Zeit, sagt Gabi Brachmann zögerlich. Und fügt hinzu: "Zumindest einfacher als die ersten ein, zwei Jahre..." Vergessen könne man den Schmerz jedoch nie. "Man ist verletzbar geworden, und das wird immer so bleiben."
Der Einsatz für andere kann jedoch helfen, im Leben wieder einen Sinn zu entdecken. Gabi Brachmann und ihr Mann, nach dem Verlust ihrer einzigen Tochter zunächst Hilfesuchende, leitet die Gesprächsgruppe seit sieben Jahren.
"Mittlerweile ist es für uns wichtiger zu helfen als geholfen zu bekommen", sagt die heute 60-Jährige. "Das ist ein schönes Gefühl." Anfangs sei es schwierig gewesen, die Distanz zu den neuen Schicksalen zu wahren.
"Die psychische Belastung war hoch", sagt sie. Doch heute könne sie helfen und Mitgefühl zeigen, ohne dass es sie selber zu sehr belaste.
Hilfe für helfende Berufe
"Trauer ist keine Krankheit, sondern eine menschliche Fähigkeit", erklärt Meier-Braun. "Aber Trauer kann durchaus zu einer Krankheit führen, die sich beispielsweise in einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Depression äußert, wenn sie nicht verarbeitet wird."
Der Hausarzt spiele im Trauerprozess deswegen eine essenzielle Rolle, so die Trauerbegleiterin. "Betroffene haben Vertrauen in ihn, kennen den Arzt oft schon ihr Leben lang.
Umso wichtiger ist es, dass sich der Arzt Zeit nimmt und gemeinsam geschaut wird, welche Art der Trauerbewältigung - Selbsthilfe, Therapie oder ein anderes Angebot - das geeignetste in dem individuellen Fall ist."
Zudem würden akut Trauernde oft die Grundpflege vernachlässigen. "In allererster Linie ist es daher wichtig zu schauen, dass der Betroffene eine Person hat, die ihm einkauft, kocht, ihn wäscht."
Doch nicht immer stecken die helfenden Berufe ihren Einsatz problemlos weg. "Gerade bei betroffenen Berufsgruppen ist es wichtig, zu sehen, wo die eigenen Grenzen liegen", sagt Meier-Braun.
Seelsorger, die nach einer Katastrophe wie dem Flugzeug-Absturz über den französischen Alpen Angehörigen helfen, würden oft in extremer Art und Weise mit der Trauer konfrontiert.
Der Bundesverband Verwaiste Eltern hat deswegen auch eine "Notfall-Broschüre" entwickelt für die, die am ersten mit dem Verlust und dem Schmerz der Eltern konfrontiert werden: Ärzte, Psychiater, Einsatzkräfte der Feuerwehr.
Wenn Helfer dann auf sie zukommen und sich für die Hilfe bedanken, dann sei das ein Moment, für den sich die Arbeit lohnt, sagt Hohn. Ein Punkt, in dem sie sich mit allen einig ist: Auch das Gefühl zu helfen, könne helfen, über die eigene Trauer hinwegzukommen.
Anke Schönbohm, deren Sohn an den Spätfolgen einer Masernerkrankung gestorben ist, sagt: "Das Schönste sind die Momente, in denen man spürt, dass der Einsatz etwas gebracht hat." Das könne Hilfe nach einem Verlust sein, aber auch eine Aufklärung.
"Wenn wir mit unserem Einsatz auch nur eine einzige Familie erreichen und nur ein Kind mehr geimpft wird oder ein Elternpaar mehr über den Schmerz hinwegkommt, dann haben wir es geschafft. Dann wissen wir, dass unser Schmerz, unsere zusammengebrochene Welt, doch für irgendetwas gut war."
Online nachzulesen:
http://www.aerztezeitung.de/panorama/article/883220/verlust-kindes-schmerz-allen-eltern-derselbe.html?sh=3&h=-646616214